Es ist heute kaum zu glauben, aber es soll eine Zeit gegeben haben, in der Dirndl und Lederhosen auf dem Münchner Oktoberfest eher die Ausnahme waren. Eine Zeit, in der die Leute dort Jeans trugen oder gar Lederjacken.
In den 80er Jahren sei das noch so gewesen, sagt Tobias Appl, Bezirksheimatpfleger in der Oberpfalz. Heute aber sei der Trend zur Tracht ungebrochen, sei «der Gruppenzwang so groß, dass das alle anhaben», auch wenn «schon erste kulturwissenschaftliche Beobachtungen zeigen, dass es nicht mehr 100 Prozent sind».
Der Trend gilt seinen Angaben zufolge längst nicht mehr nur in Bayern: «Weit über Süddeutschland hinaus sind ja inzwischen viele Volksfeste mit vermeintlich bayerischer Tracht bestückt. Ich habe solche Bilder auch schon aus Hamburg gesehen.»
Menschen kommen zur Wiesn in Dirndl oder Lederhose
«Das hat sich total etabliert und das ist kein Hype, der wieder vergeht», sagt auch Simone Egger vom Institut für Kulturanalyse an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Und Alexander Wandinger vom Zentrum für Trachtengewand des Bezirks Oberbayern sagt: «Es hat sich ein gewisses Dogma entwickelt: Wiesn und Tracht sind ein Zwillingspärchen.»
Und so wird es wohl auch in diesem Jahr – wie in den Jahren vor der Corona-Pandemie auch – auf dem größten Volksfest der Welt nur so wimmeln von Menschen in Dirndl oder Lederhose.
«Auf der Wiesn sieht man eher nicht die Tracht, die Trachtenvereine auch wirklich als solche bezeichnen würden, sondern Billig-Dirndl vom Hauptbahnhof – oder in den nobleren Boxen dann irgendwelche lachsfarbenen Designer-Dirndl für mehrere Tausend Euro», sagt Appl und spricht von «verkleiden» und «Zügen eines internationalen Faschings im Herbst».
Wandinger führt den ungeschriebenen Dresscode nicht nur auf den Wunsch nach einem bestimmten Zusammengehörigkeitsgefühl zurück, sondern auch auf die Erotik: Die Lederhose sei eine sehr männliche Kleidung, das Dirndl eine sehr weibliche, während die Frauenmode seit dem 20. Jahrhundert zum Teil «sehr androgyn» sei. Daraus auszubrechen, das scheine für viele reizvoll zu sein, sagt er.
Da kommt es wohl nicht ganz von ungefähr, dass die Firma Angermaier heute Lederhosen mit eingebautem Kondomfach verkauft.
Klassische Linien und gedeckte Farben im Trend
Rainer Wenrich, Kunst- und Modeexperte von der Katholischen Universität Eichstätt, erwartet in diesem Jahr einen «Trend zu klassischen Linien und klassischen Formen», eher gedeckte Farben und Dirndl, die nicht mehr so kurz sind.
Er betont die «antizipatorische» Funktion von Mode, die oft vorhersagen könne, wie sich eine gesellschaftliche Stimmung entwickle. «Es hat sich abgezeichnet schon vor geraumer Zeit, dass die Zeiten etwas anstrengender werden und das spiegelt sich auch in der Trachtenmode.» Mit einem «Hang zu großen Experimenten» sei man derzeit wohl eher zurückhaltend: «Ich schätze, dass es nicht mehr die kürzeste Variante vom Dirndl geben muss und nicht die witzigste Variante der Lederhose.»
Das bestätigt Angermaier-Chef Axel Munz, der Flipflops auf der Wiesn zu den größten Modesünden dort zählt. Dirndl «mit viel Chichi» seien in diesem Jahr nicht sonderlich gefragt. Er sieht ebenfalls einen Trend zum längeren Dirndl, außerdem zu Samt und hochgeschlossenen Spitzenblusen. Beschäftigt sei sein Team aber auch mit Änderungsarbeiten, sagt er – damit auch die zusätzlichen Corona-Pfunde reinpassen in die vor der Pandemie gekaufte Tracht.
Entwicklung hin zu mehr Qualität
Dirndl-Designerin Astrid Söll bestätigt den Trend weg von zuviel Kürze und sieht eine Entwicklung hin zu mehr Qualität und Dirndln, die eine Wiesn-Saison lange überdauern. Nachhaltigkeit sei ein großes Thema in der Trachtenmode, sagen auch Munz und Experte Wenrich.
Wichtig sei beim Tragen einer Tracht vor allem, dass es «ein Spiel» bleibe, wie Wandinger sagt, und dass die Tracht nicht politisch instrumentalisiert werde, beispielsweise um andere auszuschließen.
Dass Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vor allem aus anderen Teilen der Bundesrepublik dafür kritisiert wurde, US-Präsident Joe Biden beim G7-Gipfel mit einem Trachtenverein begrüßt zu haben, könne er verstehen: «Wenn ich Norddeutscher wäre, würde mich das auch nerven.»
Für Egger sind Dirndl und Lederhosen vor allem «Projektionsflächen»: «Die einen projizieren ein Bierdimfpel-Image, das sie von Bayern haben – und für die anderen ist es ein Zeichen ihrer Verwurzelung oder Verbundenheit. Die Gesellschaft macht diese Kleidungsstücke zu dem, was sie darin sehen will.»