Kurze Hosen im Büro, beim Empfang oder auf dem roten Teppich? Die Antwort auf diese wiederkehrende Sommerfrage lautete lange Zeit eindeutig «Nein!». Doch jetzt – nach über zwei Jahren Alltag mit Corona und mit einem neuen Bewusstsein für Hitzewellen und den Klimawandel – scheint im Hochsommer 2022 vieles anders zu sein.
Selbst Stil-Experten finden andere Antworten als früher. Ist das Zeitalter der «Modesünden» vorbei? Wird jetzt jede Klamotte vergeben?
Noch vor drei Jahren schienen die Tipps klar, wenn es um Moderegeln für den Sommer ging, etwa im Büro oder bei offiziellen Anlässen. Übliche Antworten von Stil-Expertinnen lauteten dann: Röcke, Kleider, Hosen nicht zu kurz, höchstens eine Handbreite oberhalb des Knies. Keine durchsichtige Kleidung, Unterwäsche darf niemals durchscheinen. Das Dekolleté sollte niemals tiefer als bis zur Achselhöhle sein. Tops mit Spaghettiträgern gehen gar nicht. Offene Schuhe sind tabu – und wer sie dennoch tragen will, muss sehr gepflegte Füße haben. Flip-Flops haben im Büro nichts verloren, es ist ja nicht der Strand.
Doch der Wandel scheint da zu sein. Das «Zeit Magazin» schrieb kürzlich: «Zugeknöpfte Sakkoträger in einem mittels fossiler Rohstoffe runtergekühlten Glaskasten in einer flächenversiegelten City» – das sei jahrzehntelang Ideal der Wirtschaftswelt und klimaschädlicher Dresscode gewesen. Das Nonplusultra: «zu jeder Jahreszeit Hemd und Sakko» tragen können. Doch in Zeiten des Klimawandels verliere «das gestärkte Businesskostüm, gern als symbolischer Panzer verstanden, seine schützende Funktion».
«Zeit»-Autor Alexander Krex forderte in der Glosse: «Sakkos weg, Socken aus, Strohhüte auf, in der Agentur, in der Kanzlei, in der Bank, im Bundestag. Die neue Heißzeit braucht eine neue Kleiderordnung.» Die neue Bürowelt solle «wie ein ausgedehntes Spaßbad» sein: «bermudabeshortst, spaghettibeträgert, flip-floppend».
Eroberte Bequemlichkeit bleibt
Ganz so locker sieht es das Deutsche Mode-Institut (DMI) zwar nicht, doch Chefanalyst Carl Tillessen bemerkt eine kleine Kulturrevolution. «Durch Lockdown oder Homeoffice haben viele Menschen nun zwei Jahre lang die bequemste Kleidung getragen, die verfügbar ist. Auf diese Bequemlichkeit wollen sie nicht mehr verzichten», sagt der Experte und Autor («Konsum – Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen») der Deutschen Presse-Agentur. «Die Geschichte lehrt uns, dass die Menschen eine Bequemlichkeit, die sie sich einmal erobert haben, nicht wieder hergeben. Vor hundert Jahren zum Beispiel gab es kein Zurück ins Korsett, nachdem die Frauen sich davon befreit hatten.»
Das neue Verhältnis zur Mode zeigt sich laut DMI-Analyst Tillessen nicht nur darin, «dass bestimmte, als unbequem empfundene Kleidungsstücke wie High Heels und Krawatten im Berufsalltag deutlich weniger getragen werden, sondern auch darin, dass bestimmte Kleidungsstücke, die vorher im Berufsalltag tabu waren, jetzt salonfähig oder vielmehr bürotauglich geworden sind». Er denke dabei etwa an Schlappen (Slides), Shorts, Spaghettiträger und Jogginghosen.
Lässigkeit nicht mit Nachlässigkeit verwechseln
«Diese neue Lässigkeit ist jedoch nicht mit Nachlässigkeit zu verwechseln», betont Tillessen. «Das heißt, die Jogginghose, mit der man zur Arbeit geht, ist nicht dieselbe Jogginghose, in der man sämtliche Staffeln „Breaking Bad“ geguckt hat. Vielmehr geht es darum, sich so bequem wie möglich zu kleiden, ohne in den Verdacht zu geraten, die Kontrolle über sein Leben verloren zu haben.»
Dies gelinge am besten mit Kleidung, die nach dem Prinzip des Polohemds funktioniere, das ja auch die Eleganz eines Hemdes mit der Bequemlichkeit eines T-Shirts verbinde. Entsprechend setze das sogenannte Sweacket seinen Siegeszug fort. Gemeint ist der Sweatshirt-Jacket-Mix, also eine Kombi aus Blazer und Strickjacke.
«Dass die Menschen nach zwei Jahren Herumgelotter das Bedürfnis haben, sich auch mal wieder chic zu machen, steht nur vermeintlich im Widerspruch zur neuen Lässigkeit», sagt Tillessen. «Während Frauen zum Beispiel vor der Pandemie mit demselben Kostümchen und denselben mittelhohen Pumps zur Arbeit und danach noch ins Restaurant gegangen wären, tragen sie jetzt tagsüber Sneaker und Jogginghose und abends 15-Zentimeter-Stilettos und ein spektakuläres Paillettenkleid.» Es gebe seit Corona eine viel stärkere Polarisierung der Kleidung, kaum noch eine Mitte. «Entweder radikal bequem oder radikal sexy. Entweder konsequent Alltag oder konsequent Anlass. Entweder Tag oder Nacht.»
Und was wird im Winter? Das «Zeit Magazin» meinte schon angesichts des russischen Kriegs in der Ukraine und der drohenden Gasknappheit, dass eigentlich ganzjährig eine klimaschonende Kleiderordnung gelten sollte. Sprich: «Weniger im Sommer, mehr im Winter. Strickjacke statt Jackett.» Das spare Heizkosten und CO2-Ausstoß.